Wie beschreibt man
Unbeschreibbares?
Wie beschreibt man die Not, Hoffnungslosigkeit, den Schmerz
mancher Patienten? Und wie das Gefühl, das man als Arzt oder Ärztin hat, wenn
man vor solch einem Bett steht und weiss, wie wenig man für sie tun
kann?
Ich habe so viele
Bilder im Kopf – manchmal drehen sie sich, wenn ich im Bett liege, in einem wilden Kaleidoskop – meist sind es
einzelne Patienten, die einem nahe gehen; dann frage ich mich: „Warum weisst
du nicht mehr?“, „Wieso gibt es in
diesem elenden Spital manchmal keine Opiate, ja nicht mal ein NSAR, kein
Sauerstoff, keine auch nur rudimentären diagnostischen Methoden?“, „Bist du
sicher die richtige Entscheidung getroffen zu haben?“ , „Geben ihm/ihr die
Krankenschwestern auch die verordneten Medikamente?“….. Zurück bleibt ein schales, unruhiges Gefühl –
man fragt sich welcher der kritisch
kranken Patienten am nächsten Tag noch leben…
Dr Jana in Zivil vor dem Seiteneingang des Spitals |
Und dann der Medical
Ward..... Wenn ich mir vorstelle, dass ich krank d o r t übernachten müsste…… Ein
blaugetünchter Saal mit zwei Reihen verrosteter Metallbetten, Plastikmatratzen
und zerschlissener Bettwäsche - Decken
müssen von den Patienten selbst mitgebracht werden. Zwischen jedem Bett ein
wackliger Metallnachttisch. Es gibt immer wieder Ameisenstrassen über die Wände;
wenn ich Kakerlaken erblicke, versuche ich wegzusehen. Jeden Tag kehrt
Kleopatra, die witzige Putzfrau und ihre Kollegin unglaublich viel Dreck vom
Boden (und Betten) zusammen. Zum Essen gibt es von der Spitalküche Morgens, Mittags und
Abends zwei Pampen in Blechschüsseln: eine Pampe ist Nshima (der Maisbrei) und
eine Pampe ist Bohnen in Sauce. Aber
immerhin gibt es zu Essen.
An den „Geruch“ habe
ich mich mittlerweile etwas gewöhnt. Ich hätte nie gedacht an was man sich
gewöhnen kann.
Aber trotz aller
Gewöhnung gibt es Situationen die zu surreal werden; weil sie zu elend sind um
wahr zu sein. Und dennoch sind sie wahr. Ich erinnere mich an den jungen Mann
mit HIV. Er kam delirant und leicht agitiert am Abend zuvor an – dort habe ich
ihn nur kurz gesehen. Dr Ndui hatte keine grosse Lust zu übersetzen, so
überliess ich ihm das Feld und ging schlafen. Als ich am nächsten Tag meine Runde im Male Medical
Ward drehte, war der junge Mann still und zeigte einen deutlichen Meningismus, seine
Pulillen reagierten kaum noch. Ich untersuchte ihn, fragte Angehörige, machte
mir ein Bild und schickte die Putzfrau in die Apotheke um andere Antibiotika
für ihn holen zu lassen. Genau in dem Moment starb er. Er hörte einfach auf zu
atmen. Ich stand mitten im Saal, die Angehörigen brachen in lautes Weinen und Wehklagen
aus und die Krankenschwester – eine der Tüchtigen – zerrte mich am Ärmel zu
einem anderen Patienten gegenüber. Mechanisch folgte ich ihr. Auch ihm ging es
schlecht. Auch er hatte HIV. Wie fast alle im Medical Ward.
Ausschnitt aus dem Female Medical Ward (auf einem Foto sieht es vielleicht noch pittoresk aus...) die meisten Frauen sind care-taker - Angehörige - und haben sich fürs Foto schön gemacht |
Seit ich dort
regelmässig arbeite, habe ich wahrscheinlich etwa 30 – 50 neue HIV Erkrankungen
diagnostiziert. Ich schätze, dass etwa 80% meiner Patienten HIV positiv sind. Auch
der junge Patient im Bett gegenüber war HIV positiv. Er hiess Elvis. Ich versuchte mich auf ihn zu konzentrieren und
auszublenden, dass vor zwei Minuten ein anderer junger Mann vor unser aller
Augen an seiner HIV Erkrankung gestorben war, nun seine Mutter am Bett stand
und laut, sehr, sehr laut und andauernd ihren Schmerz
hinausschrie. Ich merkte, dass ich eigentlich hätte hinausgehen und weinen wollen. Aber ich konnte nicht. Also
arbeitete ich verbissen weiter. Ich untersuchte Elvis. Er hatte ein schönes
Gesicht, eigentlich ein Sunnyboy-Gesichtchen, das zum Lächeln gemacht war. Wenn
er nicht so erschreckend dünn gewesen wäre und zitternd im Bett gelegen hätte,
wäre er ein schöner junger Mann gewesen. Elvis sprach fliessend englisch, schien gebildet zu sein, doch nun sprachen Angst und
Verwirrung aus seinen Augen. Ich versuchte ihm Hoffnung einzuflössen.
Ich wollte, dass er lebte! Ich wollte, dass er nicht starb! Seine CD4 Zellzahl
war irgendwo um 20, wenn ich mich recht erinnere. Für Nicht-Mediziner: sein Immunsystem war praktisch inexistent. Und
er lag in einem Saal mit offenen Tbcs, Pneumoniehustern, Meningitiden, miserablen
hygienischen Bedingungen, schlechtem Essen und alle teilten eine Toilette (wenn
sich die Türe öffnet, schwebt da ein „Düftchen“ hinein… ich will gar nicht
wissen, wies dort drin aussieht) – kurz: wenn er gewisse Krankheiten nicht
schon hatte, hier bekam er sie bestimmt,
alle.
Als ich IRGENDWANN
abends nach Hause kam, setzte ich mich an den Computer und schrieb an Marcel.
Marcel ist Infektiologe; Spezialist für HIV und Afrika. Mittlerweile habe ich
ihm bestimmt an die 40 mails geschrieben, die er mit einer Engelsgeduld
beantwortet. Und ich habe begonnen zu lesen. Über HIV und die opportunistischen
Erreger und wie man sie therapiert. Und ich diskutiere regelmässig mit dem
Apotheker um herauszufinden, was wir gerade an Lager haben und was NICHT. Dann versuche
ich zu adaptieren, schreibe wieder mails und lese wieder nach. Denn ich weiss
fast nichts über HIV und die Therapie. In der Schweiz bin ich noch keinem
einzigen HIV Patienten begegnet, der auch nur in einem annähernd ähnlichen
Zustand ins Spital kam wie hier. Man kennt in der Schweiz ein solches AIDS nur aus
Bildern der 80er und 90er Jahre. Hier
sind sie alle so. Alle halbtot. Das kann man nicht schöner schreiben. Wenn sie
ins Spital kommen, sind sie halbtot.
Ich bin also am
nächsten Tag wieder ins Spital. Ich hatte mails geschrieben, nachgelesen, bin
zur Apotheke gerannt, habe mit dem Apotheker diskutiert, nachgedacht bis es
rauchte… und mich dann nach Stunden für ein Therapieregime entschieden. Stolz
und erschöpft kam ich in den ward und übergab Elvis und seiner Familie die
vielen Pillen, die er nun zu schlucken hatte: gegen den Virus, gegen Pilze,
gegen andere Pilze, gegen Bakterien….
Eine halbe Stunde spätert lief ich wieder am Bett vorbei und fragte die Mutter,
ob alle o.k. sei. „Nein“ meinte sie, er habe die Tabletten verweigert.
VERWEIGERT. Ich war wie vom Donner gerührt. Dann marschierte ich zum Bett.
Liess Elvis aufsitzen (etwa drei Cousins mussten ihn stützen) und versuchte ihm
eine Tablette zu geben. Evis biss seine Zähne zusammen. Ich auch. Dann stopfte
ich ihm irgendwie eine von etwa 20 Tabletten rein – und wir waren beide
erschöpft. Ich sah ein, dass es so nicht ging. Ich verstand nicht, was los
war??? Also versuchte ich mit Elvis zu reden. Was war los??? Er schien weniger
verwirrt zu sein als am Tag zuvor. Aber
eine klare Antwort bekam ich nicht. Schliesslich versuchte er mir
weisszumachen, er habe zu grosse Schmerzen beim Schlucken. Ich spürte, dass das
nicht wahr war.
Nun versucht mal mit
einem Patienten, der in einem Saal mit 20 anderen Patienten und nochmal etwa 20
Angehörigen liegt und nicht aufstehen kann, ein vertrauliches Gespräch zu
führen…. Ich liess ein paar Paravents bringen (jaa, die gibt’s – werden nur
selten benutzt), setzte mich ans Bett und wir starrten uns an. Elvis und ich.
Schliesslich begann er zu flüstern – nach etwa 20 Minuten hatte er eine wirre
Geschichte "rausgebrösmelt", die unter anderem beinhaltete, dass er verhext
worden sei. Alles weitere geht nur uns zwei etwas an. Aber ich hatte eine
meiner wichtigsten Afrika-Lektionen erhalten: unterschätze nicht den Einfluss
der Hexenzauber, Aberglauben, magischen Amulette, Geister, Flüche und traditionellen
Heiler. Ich versuchte lange ihm seine markerschütternde Angst zu nehmen.
Irgendwann gab ich auf, im Wissen, dass er die Tabletten nicht schlucken würde.
20 Minuten später
berichtete mir seine Mutter, er habe alle Tabletten eingenommen. Und am
nächsten Tag war Elvis aufgestanden, strahlte mich an und fragte, wie lange er
denn noch im Spital bleiben müsse. Ich sah ihn den ganzen Tag lächeln - und was für ein Lächeln! Eine weitere Afrika-Lektion: erwarte das Unerwartete.
Die Geschichte von
Elvis ist Eine meiner Kaleidoskop-Geschichten. Es gibt noch viele. Meist enden
sie schlecht. Leider endete auch Elvis Geschichte nicht gut. Wir beide hatten
solche Hoffnung geschöpft. Nach einigen Tagen entliess ich ihn mit allen
möglichen Erklärungen und Haufen von Tabletten nach Hause. Er war noch immer in
einem sehr schlechten Zustand. In der Schweiz hätte ich ihn so NIE nach Hause
gelassen. Aber in der Schweiz hätte er im Spital seine Medikamente regelmässig
erhalten und wäre nicht in SO einem Saal gelegen. Ausserdem wirkte seine
Familie um ihn besorgt und differenziert.
Letzten Sonntag begegnete
mir auf dem Weg zum New Market mein Lieblingspfleger Elysias. Er begrüsste mich
- elegant gekleidet nach dem Kirchgang – und erzählte mir, dass Elvis in der
Nacht wieder eingeliefert worden war. In sehr schlechtem Zustand. Seine Familie
habe ihm die Medikamente nicht mehr gegeben, denn diese hätten alles nur schlechter
gemacht. Als ich am Montag ins Spital kam, wollte ich es nicht wissen. Ich
wollte, dass Elvis lebte, wollte nicht sehen wie es ihm nun ging.
Also drehte ich eine
Runde im Female Ward und versuchte nicht hinüberzuschauen zum Male Ward. Als der Nachmittag kam, hielt ich es nicht mehr aus und fragte Sr Catherine nach ihm.
Elvis war am Sonntag
gestorben.