Dienstag, 25. Juni 2013

Elvis



Wie beschreibt man Unbeschreibbares? 
Wie beschreibt man die Not, Hoffnungslosigkeit, den Schmerz mancher Patienten? Und wie das Gefühl, das man als Arzt oder Ärztin hat, wenn man vor solch einem Bett steht und weiss, wie wenig man für sie tun kann?
Ich habe so viele Bilder im Kopf – manchmal drehen sie sich, wenn ich im Bett liege,  in einem wilden Kaleidoskop – meist sind es einzelne Patienten, die einem nahe gehen; dann frage ich mich: „Warum weisst du nicht mehr?“,  „Wieso gibt es in diesem elenden Spital manchmal keine Opiate, ja nicht mal ein NSAR, kein Sauerstoff, keine auch nur rudimentären diagnostischen Methoden?“, „Bist du sicher die richtige Entscheidung getroffen zu haben?“ , „Geben ihm/ihr die Krankenschwestern auch die verordneten Medikamente?“…..  Zurück bleibt ein schales, unruhiges Gefühl –  man fragt sich welcher der kritisch kranken Patienten am nächsten Tag noch leben…


Dr Jana in Zivil vor dem Seiteneingang des Spitals

Und dann der Medical Ward..... Wenn ich mir vorstelle, dass ich krank d o r t übernachten müsste…… Ein blaugetünchter Saal mit zwei Reihen verrosteter Metallbetten, Plastikmatratzen und zerschlissener  Bettwäsche - Decken müssen von den Patienten selbst mitgebracht werden. Zwischen jedem Bett ein wackliger Metallnachttisch. Es gibt immer wieder Ameisenstrassen über die Wände; wenn ich Kakerlaken erblicke, versuche ich wegzusehen. Jeden Tag kehrt Kleopatra, die witzige Putzfrau und ihre Kollegin unglaublich viel Dreck vom Boden (und Betten) zusammen. Zum Essen gibt es von der Spitalküche Morgens, Mittags und Abends zwei Pampen in Blechschüsseln: eine Pampe ist Nshima (der Maisbrei) und eine Pampe ist Bohnen in Sauce.  Aber immerhin gibt es zu Essen.
An den „Geruch“ habe ich mich mittlerweile etwas gewöhnt. Ich hätte nie gedacht an was man sich gewöhnen kann.


Ausschnitt aus dem Female Medical Ward (auf einem Foto sieht es  vielleicht noch pittoresk aus...)
die meisten Frauen sind care-taker - Angehörige - und haben sich fürs Foto schön gemacht
Aber trotz aller Gewöhnung gibt es Situationen die zu surreal werden; weil sie zu elend sind um wahr zu sein. Und dennoch sind sie wahr. Ich erinnere mich an den jungen Mann mit HIV. Er kam delirant und leicht agitiert am Abend zuvor an – dort habe ich ihn nur kurz gesehen. Dr Ndui hatte keine grosse Lust zu übersetzen, so überliess ich ihm das Feld und ging schlafen.  Als ich am nächsten Tag meine Runde im Male Medical Ward drehte, war der junge Mann still und zeigte einen deutlichen Meningismus, seine Pulillen reagierten kaum noch. Ich untersuchte ihn, fragte Angehörige, machte mir ein Bild und schickte die Putzfrau in die Apotheke um andere Antibiotika für ihn holen zu lassen. Genau in dem Moment starb er. Er hörte einfach auf zu atmen. Ich stand mitten im Saal, die Angehörigen brachen in lautes Weinen und Wehklagen aus und die Krankenschwester – eine der Tüchtigen – zerrte mich am Ärmel zu einem anderen Patienten gegenüber. Mechanisch folgte ich ihr. Auch ihm ging es schlecht. Auch er hatte HIV. Wie fast alle im Medical Ward.
Seit ich dort regelmässig arbeite, habe ich wahrscheinlich etwa 30 – 50 neue HIV Erkrankungen diagnostiziert. Ich schätze, dass etwa 80% meiner Patienten HIV positiv sind. Auch der junge Patient im Bett gegenüber war HIV positiv. Er hiess Elvis. Ich versuchte mich auf ihn zu konzentrieren und auszublenden, dass vor zwei Minuten ein anderer junger Mann vor unser aller Augen an seiner HIV Erkrankung gestorben war, nun seine Mutter am Bett stand und laut, sehr, sehr laut und andauernd ihren Schmerz hinausschrie. Ich merkte, dass ich eigentlich hätte hinausgehen und weinen wollen. Aber ich konnte nicht.  Also arbeitete ich verbissen weiter. Ich untersuchte Elvis. Er hatte ein schönes Gesicht, eigentlich ein Sunnyboy-Gesichtchen, das zum Lächeln gemacht war. Wenn er nicht so erschreckend dünn gewesen wäre und zitternd im Bett gelegen hätte, wäre er ein schöner junger Mann gewesen. Elvis sprach fliessend englisch, schien gebildet zu sein, doch nun sprachen Angst und Verwirrung aus seinen Augen. Ich versuchte ihm Hoffnung einzuflössen. Ich wollte, dass er lebte! Ich wollte, dass er nicht starb! Seine CD4 Zellzahl war irgendwo um 20, wenn ich mich recht erinnere. Für Nicht-Mediziner:  sein Immunsystem war praktisch inexistent. Und er lag in einem Saal mit offenen Tbcs, Pneumoniehustern, Meningitiden, miserablen hygienischen Bedingungen, schlechtem Essen und alle teilten eine Toilette (wenn sich die Türe öffnet, schwebt da ein „Düftchen“ hinein… ich will gar nicht wissen, wies dort drin aussieht) – kurz: wenn er gewisse Krankheiten nicht schon  hatte, hier bekam er sie bestimmt, alle.
Als ich IRGENDWANN abends nach Hause kam, setzte ich mich an den Computer und schrieb an Marcel. Marcel ist Infektiologe; Spezialist für HIV und Afrika. Mittlerweile habe ich ihm bestimmt an die 40 mails geschrieben, die er mit einer Engelsgeduld beantwortet. Und ich habe begonnen zu lesen. Über HIV und die opportunistischen Erreger und wie man sie therapiert. Und ich diskutiere regelmässig mit dem Apotheker um herauszufinden, was wir gerade an Lager haben und was NICHT. Dann versuche ich zu adaptieren, schreibe wieder mails und lese wieder nach. Denn ich weiss fast nichts über HIV und die Therapie. In der Schweiz bin ich noch keinem einzigen HIV Patienten begegnet, der auch nur in einem annähernd ähnlichen Zustand ins Spital kam wie hier. Man kennt in der Schweiz ein solches AIDS nur aus Bildern der 80er und 90er Jahre.  Hier sind sie alle so. Alle halbtot. Das kann man nicht schöner schreiben. Wenn sie ins Spital kommen, sind sie halbtot.
Ich bin also am nächsten Tag wieder ins Spital. Ich hatte mails geschrieben, nachgelesen, bin zur Apotheke gerannt, habe mit dem Apotheker diskutiert, nachgedacht bis es rauchte… und mich dann nach Stunden für ein Therapieregime entschieden. Stolz und erschöpft kam ich in den ward und übergab Elvis und seiner Familie die vielen Pillen, die er nun zu schlucken hatte: gegen den Virus, gegen Pilze, gegen andere Pilze, gegen Bakterien….  
Eine halbe Stunde spätert lief ich wieder am Bett vorbei und fragte die Mutter, ob alle o.k. sei. „Nein“ meinte sie, er habe die Tabletten verweigert. VERWEIGERT. Ich war wie vom Donner gerührt. Dann marschierte ich zum Bett. Liess Elvis aufsitzen (etwa drei Cousins mussten ihn stützen) und versuchte ihm eine Tablette zu geben. Evis biss seine Zähne zusammen. Ich auch. Dann stopfte ich ihm irgendwie eine von etwa 20 Tabletten rein – und wir waren beide erschöpft. Ich sah ein, dass es so nicht ging. Ich verstand nicht, was los war??? Also versuchte ich mit Elvis zu reden. Was war los??? Er schien weniger verwirrt zu sein als am Tag zuvor.  Aber eine klare Antwort bekam ich nicht. Schliesslich versuchte er mir weisszumachen, er habe zu grosse Schmerzen beim Schlucken. Ich spürte, dass das nicht wahr war.
Nun versucht mal mit einem Patienten, der in einem Saal mit 20 anderen Patienten und nochmal etwa 20 Angehörigen liegt und nicht aufstehen kann, ein vertrauliches Gespräch zu führen…. Ich liess ein paar Paravents bringen (jaa, die gibt’s – werden nur selten benutzt), setzte mich ans Bett und wir starrten uns an. Elvis und ich. Schliesslich begann er zu flüstern – nach etwa 20 Minuten hatte er eine wirre Geschichte "rausgebrösmelt", die unter anderem beinhaltete, dass er verhext worden sei. Alles weitere geht nur uns zwei etwas an. Aber ich hatte eine meiner wichtigsten Afrika-Lektionen erhalten: unterschätze nicht den Einfluss der Hexenzauber, Aberglauben, magischen Amulette, Geister, Flüche und traditionellen Heiler. Ich versuchte lange ihm seine markerschütternde Angst zu nehmen. Irgendwann gab ich auf, im Wissen, dass er die Tabletten nicht schlucken würde.
20 Minuten später berichtete mir seine Mutter, er habe alle Tabletten eingenommen. Und am nächsten Tag war Elvis aufgestanden, strahlte mich an und fragte, wie lange er denn noch im Spital bleiben müsse. Ich sah ihn den ganzen Tag lächeln - und was für ein Lächeln! Eine weitere Afrika-Lektion: erwarte das Unerwartete.

Die Geschichte von Elvis ist Eine meiner Kaleidoskop-Geschichten. Es gibt noch viele. Meist enden sie schlecht. Leider endete auch Elvis Geschichte nicht gut. Wir beide hatten solche Hoffnung geschöpft. Nach einigen Tagen entliess ich ihn mit allen möglichen Erklärungen und Haufen von Tabletten nach Hause. Er war noch immer in einem sehr schlechten Zustand. In der Schweiz hätte ich ihn so NIE nach Hause gelassen. Aber in der Schweiz hätte er im Spital seine Medikamente regelmässig erhalten und wäre nicht in SO einem Saal gelegen. Ausserdem wirkte seine Familie um ihn besorgt und differenziert.
Letzten Sonntag begegnete mir auf dem Weg zum New Market mein Lieblingspfleger Elysias. Er begrüsste mich - elegant gekleidet nach dem Kirchgang – und erzählte mir, dass Elvis in der Nacht wieder eingeliefert worden war. In sehr schlechtem Zustand. Seine Familie habe ihm die Medikamente nicht mehr gegeben, denn diese hätten alles nur schlechter gemacht. Als ich am Montag ins Spital kam, wollte ich es nicht wissen. Ich wollte, dass Elvis lebte, wollte nicht sehen wie es ihm nun ging.
Also drehte ich eine Runde im Female Ward und versuchte nicht hinüberzuschauen zum Male Ward. Als der Nachmittag kam, hielt ich es nicht mehr aus und fragte Sr Catherine nach ihm. 
Elvis war am Sonntag gestorben. 
Elvis hatte solch ein schönes Lächeln gehabt; wie eine kleine Sonne. Er war 32 Jahre alt geworden. Ich hoffe, es geht ihm gut jetzt.


Ein Kirchenchor - auch das ist Afrika - Tanzen, Lachen, Lebensfreude 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen